Eine Betrachtung zum Rollenprofil des Countertenors im zeitgenössischen Musiktheater anhand zweier Beispiele.
Vom 18.05. bis 29.05.2022 fand an der Bayrischen Staatsoper das Festival „Ja Mai“ statt, in dessen Rahmen zwei Musiktheaterwerke des zeitgenössischen Komponisten Georg Friedrich Haas auf die Bühne gebracht wurden. (Über die zweite Ausgabe dieses Festivals in diesem Jahr haben wir zuvor schon in diesem Magazin berichtet). Verbunden mit Musik von Claudio Monteverdi trat diese zeitgenössische Musik in einen Dialog mit den Anfängen des Musiktheaters im 16.Jahrhunderts. Die Besetzungslisten der beiden Stücke wiesen insgesamt drei Countertenöre auf, eine überraschend hohe Zahl, ist man vor allem die Besetzung von Opern des 19.Jhds gewohnt. Noch überraschender vielleicht, dass diese Countertenöre nicht in der barocken Musik zum Einsatz kamen, sondern in den Kompositionen Haas`. Eventuell aber doch nicht so überraschend, betrachtet man die Häufigkeit, in der dieses Stimmfach inzwischen in den Werken zeitgenössischer KomponistInnen, verwand wird.
Was aber macht diese Faszination aus, die wir für den Countertenor offensichtlich empfinden? Warum ist dieses Stimmfach, das im 18.Jahrhundert schon seltener wurde und im 19.Jahrhundert völlig verschwand, seit dem letzten Jahrhundert wieder so gefragt?
Die Antwort auf diese Fragen scheint zunächst zweigeteilt zu sein. Woher kommt das Interesse im Rahmen der historisch informierten Aufführungspraxis und weswegen interessieren sich zeitgenössische Autoren für dieses Stimmfach? Im nächsten Schritt sind die Antworten jedoch eng miteinander verknüpft: Der Reiz liegt - gerade in Bezug auf szenische Darstellungen - an der Verknüpfung der hohen Stimme mit dem männlichen Körper auf der Bühne. Diese Arbeit untersucht diese Beziehung zwischen Körper und Stimme und ihre Bedeutung für das zeitgenössische Musiktheater. Meine These ist, dass der Countertenor auf der Bühne durch die Diskrepanz von Stimme und Körper als Grenzbewohner verstanden werden kann und als solcher ein Repräsentant des Außergewöhnlichen ist. Das spiegelt sich in den Rollen wieder, die für dieses Stimmfach geschrieben werden. Exemplarisch ziehe ich dafür zwei Rollen heran, die die österreichische Komponistin Olga Neuwirth für die Stimme des Countertenores geschrieben hat. Diese kurzen Analysen der Verfahrensweise einer einzigen Komponistin können in keiner Weise den Anspruch haben, die Komplexität und Vielfalt der Countertenor-Rollen in der zeitgenössischen Musik zu erfassen Sie geben jedoch eine Eindruck, wie mit dieser Idee des Außergewöhnlichen verfahren werden kann.
Zu Beginn der Arbeit steht ein kurzer historischer Überblick um die Neuentdeckung der Countertenöre zu erklären und ihr Verhältnis zu dem – im wahrsten Sinne des Wortes – ausgestorbenen Stimmfach der Kastraten darzustellen. Es folgt eine Betrachtung verschiedener Verständnisse von Geschlecht und eine Überlegung wie der Countertenor dazu zu positionieren wäre. Im dritten Teil der Arbeit widme ich mich dem Einsatz des Countertenors in der zeitgenössischen Musik und tätige zwei kurze Analysen zu der Rolle des Jeremy in Neuwirths Bählamms Fest und zu der des Mystery Man in ihrem Werk Lost Highway. Dabei liegt der Fokus vor allem auf ihrer Konstruktion dieser Rollen als Außenseiter.
I. II. Der Countertenor
Historisches
Als Michael Tippett an einem Nachmittag 1943 den Sänger Alfred Deller singen hört, ist er entzückt von der Andersartigkeit seiner hohen Stimme. „…this was the voice for which Purcell had written“ (Tippett 2014, S.1). Ravens schildert in seiner Abhandlung zur hohen männlichen Stimme, dass es Tippett war, der Deller vorschlug seine Technik des Singens mit dem Term „Countertenor“ zu beschreiben, rekurrierend auf die englischen Countertenöre des 17./18.Jahrhunderts (Tippett 2014, S.2). Mit der historisch informierten Aufführungspraxis des 20. Jahrhunderts wurde dieses Stimmfach immer gefragter, da man es für einen adäquaten Ersatz für das Stimmfach des Kastraten hielt.
Ravel gibt allerdings zu bedenken, dass diese Idee von Authentizität höchst trügerisch ist, besteht doch ein großer Unterschied zwischen der, durch Operation in ihrer Entwicklung veränderten, Stimme des Kastraten und des durch Falsett hoch singenden Countertenors (Tippett 2014, S.214f). Zunächst lohnt sich jedoch eine Betrachtung der historischen Entwicklung dieser zwei Stimmfächer.
Häufig wird das Aufkommen der Kastraten an dem Verbot für Frauen in der Kirche das Wort zu ergreifen im 4.Jhd. n.Chr. festgemacht (Herr 2013, S.26). Zuerst verbreitet sich dieses Stimmfach in der sakralen Musik. 1588 verbietet Papst Sixtus V Laien (und damit auch Frauen) den öffentlichen Auftritt in Rom. Zu dieser Zeit gibt es schon Zeugnisse über Kastraten in der europäischen Musikszene, vor allem in der italienischen.
Bei der Idee, dass der Kastrat die weibliche Stimme ersetzt, scheint es sowohl um die Stimmfarbe zu gehen, als auch um eine Repräsentation des weiblichen Geschlechts. Das zeigt sich sehr deutlich an ihrer Bedeutung in dem noch jungen Genre der Oper „Sie erscheinen im Dramma per musica als Götter und Heroen, aber sie sind auch in Frauenrollen zu sehen, dies vor allem aufgrund des weithin bekannten Auftrittverbots für Frauen in Rom, gelegentlich aber auch an anderer Stelle. Während in den frühen Phasen der Operngeschichte die Besetzung mit Kastraten die Ausnahme ist, ändert sich das im Verlauf des Seicento und Kastratenstimmen werden für die Oper unverzichtbar“ (Herr 2013, S.115). Es wird eine klare Unterscheidung getroffen zwischen der „natürlichen“ Stimme des Kastraten und der unnatürlichen, falschen (-falsett) Stimme des Countertenors (Herr 2013, S.73). Der Kastrat gilt als die vollkommenere Stimme, während der Countertenor gerne auch in parodistischen Rollen besetzt wird. Als im 17.-18. Jahrhundert die Beschränkungen der Auftritte von Frauen nach und nach aufgehoben werden, treten Kastraten nicht mehr in Frauenrollen auf. Countertenöre, männliche Alto-Stimmen werden dagegen durchaus noch in Frauenrollen eingesetzt. Dies geschieht zumeist aus komödiantischen Zwecken, vor allem wenn das Männliche an einer Frau dargestellt werden soll. Ein typisches Rollenprofil wäre dabei die alte Amme, die oft durch einen Mann besetzt wurde, um den Verlust der Weiblichkeit im Alter darzustellen (vgl. bspw. Knaus 2012, S.199-213).
Um 1800 ersetzt der Tenor mehr und mehr den Kastraten und auch das Stimmfach des Countertenors wird immer unüblicher. Gioacchino Rossinis „Tancredi“ (1813) und Giacomo Meyerbeers „Il crociato in Egitto” (1824) gelten als die letzten zwei großen Opern mit Kastraten (Herr 2013, S.395-413). An dieser Stelle kehren wir wieder zu Alfred Deller zurück und seiner Stimme „for which Purcell had written“ (Ravens 2014, S.1). Tatsächlich gibt es Theorien, die besagen, Purcell habe die Belinda in Dido und Aeneas in der Uraufführung selbst gesungen (er sang nachweislich in einer Alto Stimmlage), doch es zeigt sich, dass häufig in der zeitgenössischen Rezeption nicht klar differenziert wird, zwischen Rollen, die für einen Kastraten geschrieben wurden oder für einen Countertenor. Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, unterscheidet sich die Stimmtechnik des Countertenors grundlegend von der des Kastraten. Das Klangerlebnis ist demnach ein vollkommen anderes. Trotzdem ist der Einsatz von Countertenören in den letzten Jahrzehnten immer populärer geworden, gerade auch in szenischen Werken.
Simon Ravens fragt in seinem Band: The Supernatural Voice. A history of male singing, nach der Faszination, die Countertenöre auf die klassische Musikszene ausüben, wenn der Wunsch nach Authentizität eigentlich nicht ins Gewicht fallen kann:
„Musically, then, the benefits of counter-tenors taking operatic castrati roles may be more apparent than real. And dramatically? Fundamentally, we need to ask whether the most obvious apparent gain- of seeing men playing the parts of men- actually brings us nearer to an understanding of baroque drama. After all the castrati were figures of sexual ambiguity par excellence, and nothing in our experience of this roles is likely to reflect this more accurately than a female with a relatively straight voice and an assumed ‘masculine’ stage persona” (Ravens 2014, S.215).
Interessant ist hier genau dieser Begriff der Stage Persona. Es geht offensichtlich nicht um eine rein akustische Faszination, sondern um einen visuellen Effekt, der anscheinend, anders als es Ravens vorschlägt, ausschlaggebend ist für die Besetzung eines Countertenors in einer Kastratenrolle. Dieser visuelle Effekt spielt natürlich vor allem bei szenischen Werken eine Rolle.
Männlicher Körper, weibliche Stimme
“It is my opinion that the majority of adults still retain the primitive notion that the serious singing voice must express sex in the most obvious way of all: pitch. So this prejudice now stands in the way of art. Perhaps for prejudice we should read custom: custom that a woman`s singing voice must always sound higher than a man`s merely because speaking voices do.“ (Gilles 1982, S.6)
Peter Gilles spricht in diesem Zitat aus seinem Buch „The Counter Tenor“ die Irritation an, die das Publikum empfindet, wenn es eine hohe Stimme, die es als weiblich kategorisieren würde, hört und einen Körper, den es als männlich erkennt, sieht. Diese Frage nach dem Geschlecht war und ist dem Kastraten ebenso wie dem Countertenor immer immanent. Darauf das der tatsächlich männliche Körper der stage persona dabei eine Rolle spielen muss, weist Anne Fleigs Theorie der Körper-Inszenierungen hin:
„Die doppelte Verfaßtheit des menschlichen Körpers läßt sich beispielhaft am Modell des Theaters illustrieren. Die Körper einer Schauspielerin oder eines Tänzers produzieren und sind Zeichen, sie sind Zeichen-Körper, semiotische Körper. Sie sind aber zugleich Medium, Materialität und Leibhaftigkeit, Signifikanten, die niemals ganz im Zeichen aufgehen bzw. ihre Zeichenfunktion immer schon überschritten haben.“ (Fleig 2000, S.12)
Ist der Countertenor auf der Bühne, spielt die Anwesenheit seines Leibs damit zwingend in die Rezeption durch das Publikum mit ein. Ebenso wird es dieser Theorie folgend auch bei dem Publikum des Kastraten gewesen sein. Die Frage, die die Präsenz des Countertenors auf der Bühne also aufwirft, ist die des Geschlechts. In seinem Auftritt ist zumindest untergründig immer auch der Diskurs immanent, wie wir als Gesellschaft Geschlecht definieren und kategorisieren.
Lange verstand man die Geschlechtsidentität des Menschen eher als ein Spektrum auf dem man verschiedene Stufen der Männlichkeit/Weiblichkeit erreichen kann.
So verweist Erika Fischer-Lichte in Entgrenzungen des Körpers auf das Konzept der Körperwärme, das Aristoteles in Fünf Bücher von der Zeugung und Entwicklung der Tiere festgehalten hat. Danach wird das Weibliche mit Kälte und das Männliche mit Wärme verbunden. Angeregte Diskussionen in aufrechter Haltung oder sportliche Ertüchtigung half demnach die Männlichkeit zu steigern. Auf diesem Spektrum von Männlich/Weiblich, Warm/Kalt gab es jedoch Abstufungen, wie einen weiblichen Mann oder eine männliche Frau. Geschlecht war demnach ein eher fluides Feld, auf dem sich der Countertenor/Kastrat durchaus einordnen ließe (vgl. Fischer-Lichte 2000, S.21-25).
Im Laufe der Zeit verfestigten sich die Grenzen zwischen Männlich und Weiblich mehr und mehr, so dass sie sich eher als zwei Felder, die durch eine Grenze voneinander getrennt sind beschreiben lassen. Werfen wir einen kurzen Blick in das Konzept von sozialen und biologischen Geschlecht, das Judith Butler in „Körper von Gewicht“ aufstellt.
„Wenn das soziale Geschlecht aus den sozialen Bedeutungen besteht, die das biologische Geschlecht annimmt, dann wachsen dem biologischen Geschlecht nicht soziale Eigenschaften zu, sondern es wird vielmehr durch die sozialen Bedeutungen ersetzt, die es aufnimmt.“ (Butler 1997, S.26).
In der Suche nach seiner Geschlechtsidentität tariert das Subjekt also die Grenzen dieser sozialen Bedeutungen aus. Dabei „geht das „Ich“ diesem Prozeß der Entstehung von Geschlechtsidentität weder voraus, noch folgt es ihm nach, sondern entsteht nur innerhalb der Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen und als diese Matrix selbst.“ (Butler 1997, S.29) Das soziale Geschlecht konstruiert sich demnach in der Zeit. Die Konventionen können sich durchaus im Laufe der Zeit ändern durch „laufende Wiederholungen von Normen“ (Butler 1997, S.32). Sie sind jedoch von einer heterosexuellen Dialektik von männlich und weiblich unterteilt. „Darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper konstruiert werden, wird daher genauso wichtig sein, wie darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper nicht konstruiert werden, und darüber hinaus wird es wichtig sein, danach zu fragen, wie Körper, die bei der Materialisierung versagen, das notwendige „Außen“, wenn nicht gar die nötige Unterstützung für die Körper bereitstellen, die sich mit der Materialisierung der Norm als Körper qualifizieren, die ins Gewicht fallen“ (Butler 1997, S.40).
Was bedeutet das für die Rolle des Countertenors oder des Kastraten?
In der vereinfachenden Beschreibung, die Peter Gilles bemängelt, ist der Countertenor (ebenso der Kastrat) ein Mensch, dessen biologisches Geschlecht männlich ist. Er scheint jedoch in der Materialisierung versagt zu haben, da eines seiner wesentlichen körperlichen Merkmale, die Stimme, nach den Konventionen des sozialen Geschlechtes, dem Weiblichen zugeordnet wird. Er befindet sich damit in einem Zwischenraum, zwischen männlich und weiblich und ordnet sich nicht klar auf einer der Seiten ein. Interessant ist dabei auch, dass er nach Butler dadurch eine Befestigung der Körper darstellt, die der Norm entsprechen. Ein Grund der Faszination des Publikums und der Kunstschaffenden am Countertenor könnte also gerade in dieser Befestigung der eigenen Identität liegen, oder am Aufzeigen der Grenzen derselben.
Gleich welche Auffassung von Geschlecht betrachtet wird, der Countertenor befindet sich stets in einem Dazwischen. Er ist ein Grenzbewohner zwischen Weiblich und Männlich, das Paradox, dass er darstellt entzieht sich der Kategorisierung.
Es ist auffällig, dass genau dieses Idee eines Dazwischen/ eines Bewohnens der Grenze auch die Konstitution der Figur des Monsters bestimmt. Ganz losgelöst von allen negativen Konnotationen, die dieses Wort in unserem Sprachgebrauch hat, ist das Monster zunächst eine Gestalt, die das Andere repräsentiert. Überraschend nah an Butlers Beschreibung der Grenzen zwischen den sozialen Geschlechtern beschreiben Bogards, Holm und Oesterle im Vorwort zu dem Sammelband „Monster. Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners“ den Grenzbereich, in dem das Monster verortet ist, „als eine unscharfe, aber konkrete Zone innerhalb derer Positionen und Relationen stets neu ausgehandelt werden müssen“ (Bogards 2009, S.9). Vergleichend dazu Butler:
„Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben; sie wird jenen Ort gefürchteter Identifizierung bilden, gegen den – und kraft dessen – der Bereich des Subjekts seinen Anspruch auf Autonomie und Leben eingrenzen wird.“ (Butler 1997, S.23)
Dieses Dazwischen des Monsters spiegelt sich zunächst in seiner Leiblichkeit. „Es ist Mixtum mindestens zweier getrennter Bereiche – Mensch/Tier/Pflanze, Organisches/Anorganisches, Leben/Tod, Reales/Fiktives – oder auch zweier oder mehrerer Arten, Geschlechter, Individuen, Medien“ (Bogards 2009, S.9). Durch das Monster werden diese Grenzen, die gesellschaftliche, politische, ästhetische oder religiöse Aspekte betreffen können, hinterfragt und geweitet. Es ist also ein Reflexionswesen, ebenso wie die „versagenden Körper“ bei Butler.
Das Erscheinen eines Countertenors, bzw. Kastraten auf der Bühne thematisiert diesen Diskurs zunächst insofern, dass er eben diese Bedingung des Mixtum zwischen zwei Geschlechtern erfüllt. Hierdurch erklärt sich das bleibende Interesse an der Besetzung eines Countertenors in Kastratenrollen im Rahmen der historisch informierten Aufführungspraxis. Auch wenn das akustische Erlebnis, nicht authentisch sein mag, so ist es der performative Aspekt des männlichen Körpers auf der Bühne. Dieses Verständnis des Countertenors als Grenzbewohner, als Repräsentation des Anderen, macht ihn gleichzeitig interessant für zeitgenössische Komponisten.
II. Der Countertenor im zeitgenössischen Musiktheater
Allgemeines
Mit der historischen Aufführungspraxis rückte also der Countertenor in den Fokus der klassischen Musikbranche des 20.Jahrhunderts. Die Faszination, die dieses Stimmfach auswirkte, beschränkte sich jedoch nicht auf die Barocke Musik. Gerade auch zeitgenössische KomponistInnen verfielen der Faszination an der hohen Männerstimme. Im Folgenden betrachten wir fast ausschließlich musiktheatrale Kompositionen, um den Aspekt des Körpers auf der Bühne weiter nachzugehen.
Als einer der Ersten schrieb Benjamin Britten die Rolle des Oberons in A Midsummer Night’s Dream (1960) für einen Countertenor, wohl inspiriert von der Stimme Alfred Dellers, der auch die Uraufführung sang (Ravens 2014, S.206f). Mit der Zeit entwickelte sich so der Markt für Countertenöre und damit auch die Ausbildung ihrer Stimme. Gleichzeitig stellte das neue Stimmfach KomponistInnen natürlich auch vor eine Herausforderung. Das Interesse und die Problematik der KomponistInnen dieser Zeit, zeigt sich sehr eindrücklich in einer Aussage von Philip Glass, die er bezüglich der Titelrolle seiner 1983 uraufgeführten Ahknate getätigt hat:
„I had no special problem writing the music, except for the counter-tenor part itself. Here I was working with a voice unfamiliar to me. […] The attraction for me in using a countertenor for Akhnate must, by now, be obvious. The effect of hearing a high beautiful voice coming from the lips of a full grown man can at first be very startling. In one stroke, Akhnate would be separated from everyone around him.” ( Ravens 2014, S.218)
Er drückt hier zum einen die Schwierigkeiten aus, die die Arbeit mit einem Stimmfach, das zunächst einmal unbekannt ist und sich auch noch in der Entwicklung und Erforschung befindet, mit sich bringt. Aber gleichzeitig weist er auch auf die Faszination hin, die der Countertenor hat. Es ist interessant, dass er von dem Effekt spricht, den es hat, die hohe Stimme zu hören und den Mann zu sehen. Auch hier findet man also einen Hinweis, dass das Interesse am Countertenor immer auch visuell begründet ist. Außerdem spricht er die Wirkung dieser Ambiguität auf die Beziehung zu den anderen Figuren, die durch „traditionellere“ Stimmfächer besetzt sind, an. Diese liegt für ihn explizit darin, dass die mit einem Countertenor besetzte Figur, sich von den andere abspaltet, einen Alleinstellungswert besitzt.
Die Liste der zeitgenössischen KomponistInnen, die bis heute Rollen für Countertenöre geschrieben haben, ist lang (soweit man eine Liste von zeitgenössischen MusiktheaterkomponistInnen lang nennen möchte). Sie alle setzten den Countertenor in ihrer spezifischen Weise ein, doch die Idee des Anderen, scheint stets eng mit ihm verknüpft zu sein.
Kordula Knaus untersucht in dem Aufsatz „Von Ammen, Müttern, Schwestern und Göttinnen: Der Einsatz hoher Männerstimmen für weibliche Bühnencharaktere in der Oper“ explizit den Einsatz des Countertenors in Isabel Mundrys Werk. Mundry besetzt (oberflächlich betrachtet im Einklang mit der Rolle des Countertenors in der Vergangenheit) Frauenrollen mit diesem Stimmfach. „Der Einsatz von Countertenören in Frauenrollen ist auch in der zeitgenössischen Oper mit interpretativen Akten verbunden, die über entsprechende Prozesse bei konventionellen Besetzungsentscheidungen jedenfalls hinausgehen. Eine „Neutralisierung“ des Faktor Geschlecht ist nicht möglich“ (Knaus, 2012, S.211). Statt einer Parodie auf die Männlichkeit der dargestellten Frau, wird nun jedoch eher eine Rolle entworfen, die die Fragen nach der Konstruktion von Weiblichkeit stellt. Eine Reflexionsfigur also, die mit den Grenzen spielt und das soziale Geschlecht in Frage stellt.
Eine andere Komponistin, die sich in ihrer Arbeit immer wieder mit dem Stimmfach des Countertenors befasst, ist Olga Neuwirth. Durch ihre immer wiederkehrenden Themen der Fremdheit und Andersartigkeit und ihrem Interesse an den unendlichen Möglichkeiten der Stimme und des Klangs, ist die Beschäftigung mit dem Countertenor naheliegend. Dabei interessieren sie vor allem auch die anderen Seite der Stimme, abgesehen von dem Falsett. „Other composers may have politely deferred to their counter-tenors by exclusively writing for their falsetto register, but in her 1994 Five Daily Miniatures Neuwirth also lays bare the uncomfortable underside of the voice. Here, there is no room for semantic quibbles to distinguish between modal and speaking voices, since the singer is required to speak (or at last sprechstimme) modally“ (Ravens 2014, S.219). Gerade der Kontrast zwischen dem hohen Falsett und der männlichen Sprechstimme scheint sie zu interessieren. Das geht einher mit ihrem Wunsch Klänge zu dekonstruieren, ihre Funktionsweise aufzudecken und mit der Wahrnehmung des Publikums zu spielen (Van Treeck 2020, S.115).
In den späten 90er Jahren beschäftigt sich Neuwirth eindringlich mit dem Sänger Klaus Nomi. Der 1944 in Immenstadt geborene Sänger machte in den 70er/80er Jahren Karriere in New York als in der populären Musikszene tätiger Countertenor. Seine Musik erstreckte sich von Stücken des 16.Jhd. bis in die (gerade amerikanische) Populärmusik der 1970er. Auffällig war er nicht nur durch seine Stimme und seinen besonderen Stil, sondern auch durch seine sehr artifizielle Bühnenerscheinung, die an einen Alien erinnert. Schon seine Selbstdarstellung spricht also von einer Andersheit. 1998 feierte Neuwirths Songplay Hommage à Klaus Nomi Uraufführung. Sie interpretiert Stücke aus seinem Repertoire mit technisch produzierten und manipulierten Klängen neu und bricht mit der Grenze zwischen Popmusik und ernster, klassischer Musik. Für sie, so Bernhard Günther, ist „die von Nomi zum Prinzip erhobene ästhetische Haltung des ständigen Außenseiters […] längst zur einzig plausiblen geworden“ (Günther 1998, S.172).
An diesen zwei sehr kurzen Betrachtungen zeigt sich Neuwirths Interesse an der Stimme des Countertenors, insbesondere in Bezug auf seine stimmliche Bandbreite und seine Position als Außenseiter. Zwei genauere Analysen zweier Rollen, die sie für das Stimmfach Countertenor geschrieben hat, sollen einen tieferen Einblick in die Funktionsweise dieses Konzeptes bieten.
Rollenprofile
Bählamms Fest
Nach einer langen verwickelten Entstehungsgeschichte feiert 1999 „Bählamms Fest“ seine Uraufführung. Schon 1992 hatte Neuwirth den Plan eine Oper auf Grundlage des Dramas „La Fête de l’agneau“ zu schreiben. 1994 vollendete Elfriede Jelinek das Libretto und 1999 wurde die Oper nach etlichen Verschiebungen in einer Co-Produktion der Wiener Festwochen mit der Opera National du Rhin, Strasbourg produziert. „La Fête de l’agneau“ ist ein Drama, das die surrealistische Künstlerin und Schriftstellerin Leonora Carrington 1940 verfasste. Sie verarbeitet darin in einer abstrakten Weise die Internierung ihres Lebensgefährten Max Ernst als feindlicher Ausländer in Frankreich (Hochradl 2010, S.413). Neuwirth beschrieb ihr Interesse an diesem Stoff folgendermaßen: „Mit einem Märchen, vor allem mit einem surrealistischen Märchen – und gerade darum handelt es sich in Leonora Carringtons Stück – kann man durch die Überhöhung noch einmal tiefer zur Wirklichkeit zurückkehren“ (Neuwirth nach Hochradl 2010, S.416). Es interessiert sie gerade das gesellschaftskritische, dass unter der surrealen, märchenhaft anmutenden Oberfläche liegt.
Neuwirths und Jelineks Opern in wenigen Sätzen zusammenzufassen, scheint ihrer Komplexität nie gerecht zu werden. Stark vereinfacht ausgedrückt, erzählt diese Oper in 13 Bildern die Geschichte der jungen Theodora, die vor der Gesellschaft, repräsentiert vor allem durch ihre Schwiegermutter Mrs. Carnis und ihren Ehemann Philip, in die Arme von Philips Bruder flüchtet. Dieser Bruder, Jeremy, ist ein Werwolf aufgrund der sexuellen Verbindung seiner Mutter mit einem Hund. Jeremy wird von Jägern erschossen, erscheint Theodora jedoch noch ein letztes Mal als Geist. Er fordert von ihr ewige Treue und Schönheit, andernfalls könne er sie nicht lieben. Neuwirth und Jelinek beenden das Stück mit der Idee, dass die junge Theodora nun ein Leben lang mit dieser verlorenen und unterdrückenden Liebe zu leben hat. In ihrer Konzeption sieht man auf einem Bildschirm Theodoras Gesicht durch eine Morphing-Technik altern.
Unterteilt sind die 13 Bilder durch sogenannte White outs, oder Schnee/Eis-Inseln, die die kalte Atmosphäre, die das Stück beherrscht von Beginn der Vorstellung an bestimmt. Weite Teile des Textes werden gesprochen. Neuwirth versteht das Mittel des Gesangs auf der Bühne grundsätzlich als extreme und unrealistische Äußerung. Es muss für sie einen dramaturgischen Sinn haben, wieso und in welchen Situationen gesungen wird. In Bählamms Fest weist Hochradl darauf hin, dass der Gesang den Übergang des Realen ins Surreale anzeigt (Hochradl 2010, S.481). Zu den Ausdrucksformen des Singens und Sprechens kommt außerdem noch stimmliche Äußerungen wie Geheul. „Sprache, Gesang, Schauspiel, Szene und Musik treten in ein komplexes Wechselspiel“ (Hochradl 2010, S.480). Neuwirth selbst nennt das Stück ein „aufgebrochenes Musiktheater“ (Drees 2008, S.101).
Im fimtcast Folge 8 sprechen Christine Stein, Dominik Frank und Elisabeth van Treeck über Bählamms Fest. Van Treeck weist hier zur Erklärung des Begriffes des aufgebrochenen Musiktheaters auf das Interesse Neuwirths an dem französischen Filmmacher Jean-Luc Godard hin. Seine Technik der Zerstückelung von Szenen, die häufige Trennung von Ton- und Bildspuren oder die Zitathaftigkeit in seinen Filmen zeige eben diese Aufgebrochenheit, mit der auch Neuwirth arbeitet (vgl. Min 08:05-9:00).
Im Mittelpunkt der Erzählung steht Theodora. Ihr Umfeld, das sich aus ihrer Schwiegermutter Mrs. Carnis, dem Hund Henry, ihrem Mann Philip und einigen anderen zusammensetzt, fungiert als eine Darstellung einer kalten, gefühlslosen Gesellschaft, die die junge Frau unterdrückt. Ihre einzige Möglichkeit der Flucht ist ihre Beziehung zu Jeremy, der als Wolfsmensch außerhalb dieser Gesellschaft steht. Ihre Hoffnung auf dieses Andere scheitert jedoch, als die Jäger (stellvertretend für die Gesellschaft), ihn töten.
Jeremy steht in vielerlei Hinsicht außerhalb der Gesellschaft. Als Werwolf ist er halb Mensch/ halb Tier, lässt sich nach Bogards also als klassischer Grenzbewohner oder sogar als Monster definieren. Auffälliger Weise wimmelt Bählamms Fest von solchen Grenzbewohnern zwischen Tier und Mensch, was sich allein schon an der Sprachbegabung der Tiere, die auftreten zeigt. Jeremy ist demnach auf den zweiten Blick nicht so verschieden von den anderen Figuren. Sein Handeln gegen diese macht ihn jedoch zu einem Ausgestoßenen. Das wird inhaltlich am deutlichsten als er in Neuwirths Stück als Erzengel Gabriel verkleidet, das umjubelte Schaf Mary umbringt (Bild 8). Mord wird häufig als animalische Tat definiert, der Mensch, der das Tabu des Tötens eines anderen Menschen bricht, überschreitet eine Grenze, die ihn näher zum Tier als zum Menschen stellt. Jeremy bricht dieses Tabu, was langfristig zu seiner Ermordung führt. Ausschlaggebend ist dabei natürlich, dass auch das Schaf Mary humanisiert dargestellt wird. Der Mord festigt jedoch auch seine Position als Außenseiter und Repräsentant des Anderen. Jeremy ist allerdings weit entfernt von einem idealen Retter für Theodora:
„Aber auch Jeremy (das erhoffte, ersehnte Glück bringende Andere) wird entlarvt werden müssen. Sein Egoismus, seine Kälte, sein Befehl nach ewiger Schönheit, treibt Theodora auch in die Verzweiflung, ins Elend, ins Alleinsein.“ (Neuwirth nach Hochradl 2010, S.416.)
Theodoras Hoffnung auf das Andere wird so schlussendlich enttäuscht. Jeremy ist demnach gleichzeitig eine Figur, die etwas Anderes, als Gegenentwurf zu der restlichen Gesellschaft repräsentiert, gleichzeitig aber in seiner Beziehung zu Theodora ihr ebenso Unrecht antut und sie wiederum zu einer Außenseiterin macht.
„Am Ende verliert Theodora – sie ist der halb menschlichen, halb tierischen Gestalt rettungslos verfallen – diesen Wolfsmenschen, weil er – als eine Art „arktischer Vampir“, als Repräsentant des Anderen, das nicht sein darf – umgebracht wird; Theodoras Stimme wird dann vollkommen live-elektronisch verändert, also mit Random-Vibrati, Akkordtranspositionen und Delays…“ (Drees, 2008, S.102)
Das Außenseitertum, die Einsamkeit wird von Neuwirth auch durch die Stimme dargestellt. Für den Repräsentanten des Anderen, den Werwolf Jeremy komponiert/erfindet sie daher ein komplexes System der Verfremdung. Die Rolle des Jeremy ist mit einem Countertenor besetzt. Die Diskrepanz zwischen Körper und Stimme, die zuvor angesprochen wurde, spiegelt sich in seinem Fall in seiner Stellung zwischen Mensch und Tier wieder und verstärkt sein Anderssein. Neuwirth verfremdet außerdem seine Stimme durch Live-Elektronik und morpht sie mit Aufnahmen von kanadischen Wölfen. Jeremy „singt“, oder heult, so in einer ganz eigenen Klangqualität, die sich stark von dem Klang der anderen Sänger und vor allem auch von dem Klang, den das Publikum erwartet, unterscheidet. Die stimmliche Ebene trifft sich so mit der Charakterisierung der Rolle. So wie Jeremy als Figur zwischen Tier und Mensch steht, bewegt sich auch seine Stimme auf dieser Grenze zwischen animalischen und humanen. Das Publikum wird so mit einer mehrfachen Grenzüberschreitung konfrontiert. Zunächst sieht es einen Mann, der sehr hoch singt, und in der nächsten Ebene ist diese Stimme gemorpht mit Klängen, die es eher dem Tierreich zuschreiben würde.
Gleichzeitig trennt die elektronische Verfremdung die Stimme vom Körper. Zwar kann man sie dem Mann auf der Bühne zuordnen, der die Töne live produziert, doch das vermischte und verfremdete Resultat kommt aus den Lautsprechern und ist demnach ein Stück weit abgelöst vom Leib des Darstellers.
Um die Figur des Jeremys herum existiert ein ganzer Verbund hoher Stimmen. In Bild 5 tritt ein Junge, also eine Knabenstimme, als kindliche Mrs. Carnis auf. Hier findet sich außerdem eine Diskrepanz zwischen Körper des Darstellers und dargestellten Geschlecht, die an den Countertenor erinnert. Theodora selbst ist mit einem leichten Sopran besetzt, Philips erste Frau Elisabeth mit einem Koloratur-Sopran (Vgl. Hochradl, 2010, S.424f). Der Countertenor steht demnach nicht allein als hohe Stimme da, nimmt jedoch durch die Art wie Neuwirth mit der Stimme umgeht, dennoch eine besondere Position ein.
Lost Highway
Versteht man Bählamms Fest als Literaturoper, ist Lost Highway eine Filmoper. Das Libretto (erneut von Elfriede Jelinek) ist ein Arrangement auf der Grundlage des Drehbuchs für David Lynch und Barry Giffords Film Lost Highway (1997). Der Film handelt von einem Mann, Fred, der mysteriöse Videos geschickt bekommt, auf denen sein Haus zu sehen ist. Auf dem letzten Tape sieht er den Mord an seiner Frau Rene, für den er kurz darauf verhaftet wird. Im Gefängnis verwandelt sich Fred in den Automechaniker Pete. Pete verliebt sich in Alice, die Freundin des Gangsterbosses Mr.Eddy. Bei der gemeinsamen Flucht bringen sie Andy, einen Pornoproduzenten um. Alice verschwindet kurz darauf und Pete verwandelt sich zurück in Fred. Unter Anleitung des Mystery Man erschießt Fred Mr.Eddy. In dieser kurzen Zusammenfassung verliert die Handlung einen Großteil ihrer Komplexität und Rätselhaftigkeit, die Lynchs Film ausmachen. Es zeigt sich jedoch schon die Zweiteilung der Narration. Der erste Teil beschreibt Freds Teil der Geschichte, während der zweite Petes erzählt. Alice und Rene werden dabei von der gleichen Person verkörpert. Zwei Figuren treten in beiden Strängen unter gleichen Namen und verkörpert durch die gleichen Darsteller auf: der Pornoproduzent Andy und der Mystery Man. Beide Figuren besetzt Neuwirth mit Countertenören. Werfen wir im Folgenden einen genaueren Blick vor allem auf den Mystery Man.
Zunächst zur klanglichen Gestaltung des Stückes: Im ersten Teil der Oper (bis zu Freds Verwandlung) wird vor allem gesprochen, unterlegt von einem Klangteppich. Die Komponistin selbst beschreibt die Grundstimmung in dem Vorwort der Partitur folgendermaßen: „Da es in „Lost Highway“ von Anfang bis Ende keinen Ausweg gibt, soll das Video in Korrelation mit dem Ton einen konstant flackernden Klang-Bild-Raum bilden“ (Neuwirth 2006, Vorwort). Im zweiten Teil singen die Darsteller zu größten Teilen. Wie schon in Bezug auf Bählamms Fest erwähnt, versteht Neuwirth Gesang als ein unrealistischeres Ausdrucksmittel als Sprache. Ab der Verwandlung zu Pete schlägt das Stück demnach in eine surrealistischere Ausdrucksform um. Die beiden Klangwelten unterscheiden sich stark voneinander.
Eine Art Verbindung zwischen beiden scheint der Mystery Man zu bilden. Er ist als Charakter schwer zu definieren. Neuwirth beschreibt ihn „eine Art Außerirdischer, ein zeitloses/raumloses, asexuelles, neutrales Wesen“ (Neuwirth 2006, T137-138). Er scheint wie ein auktorialer Erzähler, das Geschehen zu steuern. Gleichzeitig scheint er nicht wirklich real zu sein, da er in der Lage ist an Orten präsent zu sein, an denen er eigentlich nicht sein könnte. So zum Beispiel in Freds Bett, in einer doppelten Präsenz gleichzeitig bei Fred auf einer Party und in dessen Haus, oder später in einer Hütte in der Wüste. Hochradl beschreibt Lost Highway als „als eine[n] der rätselhaftesten Filme der letzten Jahrzehnte […], dessen Handlung entsprechend einer Möbiusschleife, als in sich verschlungene Gebilde konzipiert scheint, welches Grundzustände wie „innen“ versus „außen“, oder „vorne“ versus „hinten“ nicht impliziert, sondern nur einer durchgehende Oberfläche aufweist, in welcher jeder Punkt Anfang und Ende zugleich in sich vereint – ein Film postmodernen Tendenzen entsprechend“ (Hochradl 2010, S. 536). Der Mystery Man jedoch scheint außerhalb und gleichzeitig innerhalb dieser Schleife zu existieren. Er sieht alles, versteht alles und kann kommen und gehen wie es ihm beliebt. Insofern ist er vielleicht weniger ein Grenzbewohner (um in unseren Kategorien zu bleiben) als ein Grenzgänger. In den Regieanweisungen Neuwirths taucht er, parallel zum Film, das erste Mal in einer Vision Freds auf. Er sieht den Mystery Man verkleidet als Renee neben sich liegen. Er soll erst auf dem Bildschirm, dann neben Fred liegend auftauchen. Bevor man ihn also hört, erscheint erst sein Bild, und dann sein Körper auf der Bühne.
Das erste Mal akustisch anwesend, ist er jedoch in der Szene auf der Party in Andys Haus. Er spricht im Falsett in einem notierten Sprechgesang, also einer Zwischenstufe zwischen Gesang und Sprache. Im Kontrast zu der Sprechweise der anderen Figuren unterstützt diese Stimmführung seine Andersartigkeit. Gleichzeitig singt Petes Stimme aus dem Off Vokalisen über den Dialog. Damit wird mit dem Mystery Man eine neue Art des Ausdrucks eingeführt. Der Mystery Man am Telefon spricht in Modallage. Das Publikum wird so mit einem Körper auf der Bühne konfrontiert, der in einer Lage singt, die „falsch“ wirkt. Dann hört es die körperlose, „richtige“ - weil männliche - Stimme am Telefon. Hier wird demnach doppelt mit den Erwartungen, die durch den Körper auf der Bühne angeregt wurden, gebrochen. GeDer Sprechgesang im Falsett ist die übliche Ausdrucksform, der sich der Mystery Man bedient. Sowohl er, als auch Andy, singen beinahe nie auf der Bühne. An mehreren Stellen sind sie allerdings mit Vokalisen aus dem Off zu hören. Meist begleitet durch Mr.Eddys Stimme. Hier wird erneut deutlich, dass Neuwirth den Countertenor nicht zwingend als Einzigartig in ihren Werken versteht, sondern, dass er durchaus in einer Beziehung zu anderen erklingenden Stimmen steht. Neben Andy, der auch ein Countertenor ist, sind es in diesem Fall Alice/Renee als Sopran und Mr. Eddy, der durch einen Sprechkünstler besetzt wird, der sich jedoch auch häufig des Falsetts bedient.
Auch innerhalb der Erzählung stellt sich im Laufe des Stückes eine Verbindung zwischen ihnen her. Zunächst wird die Zusammengehörigkeit dieser Figuren über ihre Stimmen etabliert. Nach der ersten Begegnung mit dem Mystery Man fragt Fred Renee, wie sie Andy kennengelernt hat. Sie antwortet in einem „Sprechgesang á Pierrot“ während der Mystery Man, Eddy und Andy aus dem Off Vokalisen singen (Neuwirth, 2006, S.49ff, T 237–251.). Der Mystery Man, als derjenige, der den Sprechgesang als Art des Ausdruckes eingeführt hat, scheint werkimmanent wie sein Urheber. Diese musikalische Sequenz wiederholt sich folgerichtig in einer parallelen Szene im zweiten Teil, in der Pete Alice fragt, wie sie in Kontakt zu Andy und Mr.Eddy gekommen ist. In der Wüste wird die Verbindung zwischen Mystery Man und Alice sehr deutlich. Alice geht mit den Worten „you will never have me“ ab (Neuwirth 2006, S.211f, T1205-1207). Sie singt diese Worte und endet mit einem a‘‘. Nachdem Pete sich wieder in Fred verwandelt hat, erscheint der Mystery Man und singt „Hello“ mit der ersten Silbe auf dem gleichen Ton bloß eine Oktave tiefer. Seine Stimmführung wirkt wie eine Parodie der letzten Phrasen, die Alice gesungen hat. Außerdem wechselt er zwischen den gesungenen Phrasen und dem für ihn typischen Sprechgesang, wodurch der parodistische Kontrast noch verstärkt wird. Die Beziehung zwischen den beiden Stimmen wird hier sehr deutlich.
Der Mystery Man erscheint schon allein durch die Beschreibung seines Äußeren als Außenseiter. Sein rätselhaftes Auftreten und Verschwinden, wie auch die Tatsache, dass er in beiden Teilen gleichermaßen auftaucht und eine Art Allwissenheit zu besitzen scheint, scheinen ihn als Repräsentation des Anderen auszuweisen. Auch für ihn findet Neuwirth einen Klang der sich von den anderen Figuren unterscheidet, gleichzeitig setzt sie ihn jedoch erneut in eine Konstellation hoher Stimmen. Er erscheint gleichzeitig als Außenseiter und Fädenzieher.
Fazit
Was also ist die „Faszination Countertenor“?
Der Fokus liegt hier auf seinem szenischen Auftritt, also seiner Bedeutung als Körper auf der Bühne. Es ist deutlich geworden, dass die Grundlage dieser Faszination die Diskrepanz zwischen Körper und Stimme bildet. Nach Butlers Theorie kann man ihn in die Kategorie der versagenden Körper einordnen. Sein soziales Geschlecht wird durch die „weibliche“ Stimme gestört. Durch sein Versagen, so Butler, können wir uns in unserem sozialen Geschlecht befestigt fühlen. Betrachtet man ergänzend dazu die Definition eines Monsters, offenbaren sich gewisse Parallelen. Das hilft zum Verständnis insofern weiter, dass man den Countertenor als Grenzbewohner verstehen kann. Als solcher birgt er ein starkes reflexives Potential. Seine Anwesenheit regt das Publikum zum Erkennen und Hinterfragen der Grenzen an. Diese Grenzen können sich auf verschiedenste Bereiche des sozialen Lebens beziehen.
Durch diese Betrachtung wird deutlich, dass mit dem Countertenor zunächst immer gewisse Diskurse mitschwingen. Diese Diskurse scheinen es zu sein, die ihn nach wie vor mit dem Kastraten in Verbindung bringen und die es trotz der stimmlichen Diskrepanz zu diesem, interessant machen ihn für Rollen zu besetzten, die für Kastraten geschrieben wurden.
Diese Diskurse sind es auch, neben der stimmlichen Einzigartigkeit, die ihn zu einem interessanten Fall für zeitgenössische KomponistInnen machen. Sie betonen die Rolle des Anderen, die sich mit seiner Funktion als Grenzbewohner ergibt. Olga Neuwirth verbindet in ihrem Reden über ihre Arbeit selbst immer wieder die Rollen, die sie für Countertenöre schreibt, mit einer Idee des Anderen. Dabei macht sie sich in Bählamms Fest vor allem das kritische Potential zu nutzen. Jeremy ist ein Grenzbewohner par excellence. Er ist ein Mixtum zwischen Mensch und Tier, was sich durch die elektronische Verfremdung auch in seiner Stimme wiederspiegelt. Zuletzt als Geist auftretend ist er sogar eine Mischung aus Leben und Tod. Gerade dadurch und durch diese Überspitzung, die die Figur auszeichnet, hofft Neuwirth eine Wirklichkeit abzubilden, bzw. eine Gesellschaftskritik zu übermitteln.
Der Mystery Man in Lost Highway repräsentiert ebenso das Andere, da er außerhalb der Handlung zu stehen scheint. Er kann in sie eingreifen und sie manipulieren und unterscheidet sich dadurch maßgeblich von den anderen Figuren. Andy, der zweite Countertenor des Stückes, besitzt diese herausgehobene Funktion nicht, doch auch er existiert als gleiche Figur in beiden Geschichtssträngen, kann also als Grenzgänger verstanden werden.
Stofflich scheinen beide Rollen (der Mystery Man und Jeremy) schon in ihrer Anlage in dem Film, bzw. dem Drama die Rolle des Anderen einzunehmen. Ihre Besetzung durch Countertenöre ist in diesem Zusammenhang durchaus nachzuvollziehen.
Klanglich spielt Neuwirth mit den Stimmen. Jeremys wird stark elektronisch manipuliert, was sie noch ungewöhnlicher erscheinen lässt. Der Mystery Man spielt mit dem Falsett und der Modallage, steigert so die Irritation noch. Außerdem arbeitet Neuwirth dezidiert mit seiner Ab- bzw. Anwesenheit auf der Bühne und verstärkt so die Frage nach dem Körper noch.
Einschränkend möchte ich jedoch feststellen, dass sich in beiden Werken eine ganze Konstellation an hohen Stimmen feststellen lassen, in Bählamms Fest sogar mehrere Mischwesen. Jeremy und der Mystery Man scheinen nicht allein das Andere zu repräsentieren, sie tun es jedoch am herausragendsten.
Den Countertenor, ebenso wie zuvor den Kastraten, umgibt also eine Aura des Außergewöhnlichen, Anderen, Wunderbaren. Dadurch wird er gleichzeitig zu einer Reflektionsfläche für die Frage nach dem „Normalen“. Vielleicht ist Neuwirths Antwort darauf, dass es dieses Normale im Endeffekt nicht gibt, weil alle ihre Figuren mit dem Abnormalen verbunden sind. Doch diese Frage verlangt nach einer ausführlicheren Betrachtung ihrer Werke, in einer anderen Arbeit.
Gezeichnet: Wein in den Muscheln
Pont - l'Abbé, Juli 2023
Literaturverzeichnis
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Ja, Mai | Bayerische Staatsoper - Bayerische Staatsoper, letzter Zugriff: 29.05.2022 10:00h.
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